Agenda.

M. schwieg beharrlich, verbiss sich tiefer ins trockene Brötchen. Ich hatte im Restaurant auf mich warten lassen, was in der Tat eine missliche Unhöflichkeit gewesen war. Wir gaben rasch die Bestellung auf. Nachdem ich M. ganz im Ton der Entschuldigung von der Begegnung mit dem Mann im Anzug erzählt hatte, war es an ihr, genüsslich Rache zu nehmen: »Der Consultant ist doch mit allem, was er gesagt hat, völlig im Recht. Die blinde Verschwendung von Ressourcen ist ganz widernatürlich. Ist etwas nicht funktional, muss es eben optimiert werden. Das weiß jeder Hummer.«

Ich wollte widersprechen, aber war sie einmal in Fahrt gekommen, hatte das keinen Zweck: »Diese Dinner, das Kerzenlicht, das ewige Nachschenken von Bordeaux, die lateinischen Formeln, eine einzige Vergeudung von Zeit und Geld. Viel besser lässt sich doch wirtschaften, wenn das Catering endlich auf das wirklich Notwendige reduziert wird. Den Schnupftabak, den Claret, den französischen Käse abschaffen; die Witze verbieten und die Tischgespräche. Man muss mit der Zeit gehen: Stehempfang bei Konferenzen, die das Konferenzwesen diskutieren; mehr Zeit und Geld für Forschungsleistung, neue Medikamente, Menschenleben; steigende Rendite, glückliche Anleger, win-win.«

Selbst der Hauptgang konnte sie nur kurz unterbrechen: »Was aber ist das beste daran? Denke nur: Den anderen schmeckt’s auch nicht; versalzen wir also allen die Suppe und es wird gerecht zugehen, wir alle sind dann gut und gesund und Lichtesser ohne Leib und Seele. Und jeder ist um sein Glück gebracht, und alle sind happy. Was haben wir nicht schon alles unwiderruflich verloren, wo die anderen alles gewannen? Und was brauchen wir am Ende wirklich, als den reibungslosen Ablauf von Wiege und Grab?«

agenda

Erst nach dem Espresso versandete die unvernünftige Suade. Ich liebte ihren Sinn für Humor, aber gleichzeitig auch die Brüste in dem wild getupften Kleid. M. gab ein gnadenlos überzogenes Trinkgeld und Lächeln; wir brachen auf in die Nacht, wo die Sterne einander ihr Glänzen streitig machten. In aufgewühlter Stille gingen wir am Fluss entlang, ehe wir in die Masse eintauchten. An einem der unzähligen Feuer blieben wir stehen und wärmten unsere Gesichter. Masken schürten den Rauch, Flaschen gingen im Kreis herum, Fontänen aus Licht stiegen zum Himmel. Lieder füllten die Gassen. Ein Anflug von Rebellion hauchte sein Leben aus.

Daheim angekommen, stemmten wir wieder gemeinsam das Tor auf. Im Kamin glühten Scheite vor sich hin. Der Teppich war zurecht gerückt; die bedder hatten das Geschirr gespült. M. griff sich die Flasche Port, die sie vor ein paar Tagen aus dem Combination Room hatte mitgehen lassen. Kalter Novemberregen setzte ein. Sie löschte das Licht. Auch das Bett war frisch bezogen. Feuerwerk stieg auf vor dem Fenster. Ersticktes Jauchzen aus dem Garten. In der Ferne Sirenen. Die Finsternis war Glanz und Gloria; es würden mich die unwahrscheinlichsten Träume heute Nacht verfolgen.

Identität.

Ich wollte nur rasch meine Geldbörse holen, die ich nach Feierabend in der Küche hatte liegen lassen. Im Spiegelsaal blieb ich kurz stehen und zupfte meine Fliege zurecht. Die langen Tische waren für das Recruitment Dinner der Unternehmensberatung schon eingedeckt, die sich im College eingemietet hatte. Lautstark ließ sich der Empfang vom Foyer her hören. Ich hatte noch geholfen, alles vorzubereiten, heute Abend aber würden M. und ich ausgehen, ins Alimentum, das erste Haus am Platz. Nur meine Fliege zeigte sich noch widerspenstig. Da schlüpfte ein Anzug durch die Tür, erspähte mich und schon stand er vor mir. Der Mann war rotwangig, bartlos, grau gefärbte Schläfen, die Augen blutunterlaufen.

Wir schüttelten Hände, er stammelte meinen Namen nach. »Ich möchte Dir nicht zu nahe treten«, sagte er, und ich atmete seinen Mundgeruch, »aber wir suchen gerade jemanden exakt wie Dich.« Auf meinen fragenden Blick hin fuhr er fort: »Jemanden, der sich auch mal abseilt, der sich nicht am lauwarmen Champagner besäuft, der die Kräfte sammelt, im rechten Augenblick zu glänzen.« Ich setzte ein paar Worte an, um das Missverständnis aufzuklären, aber er unterbrach mich: »Wir, gerade in diesen schwierigen Zeiten, bauen auf Leute mit Migrationshintergrund, so einer ist flexibel, der ist vertraut mit der Stärke schwacher Bindungen. Das ist wichtig fürs Geschäft.«identität

Nach einem prüfenden Blick kniff er mir in den Oberarm und bog ihn mehrmals hin und her. »Ich sehe schon, da lässt sich noch einiges entwickeln. Um dir gleich mal so ein 360-Grad-Feedback zu geben. Aber keine Sorge, wir werden das Kind schon schaukeln, wir brauchen einen Leithammel zwischen den Schafen. Jemanden, der zum Beispiel den Sauladen hier mal umkrempelt. Viel zu viel Personal, das nur rumsteht und lächelt. Der Champagner ist ein Witz, und diese Häppchen auch nicht so der Bringer. Aber erklären Sie das mal den Polski da draußen.« Unser Kitchen Porter Tomasz würde ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, durch den Fleischwolf ziehen.

Da aber trat der Anzug mir wieder auf die Füße: »Was bist Du eigentlich genau?« Also erklärte ich mich: »Ich bin x mit y sexueller Orientierung und z Vorfahren. Mein Geschlecht ist quasi dies, meine Blutgruppe das, und folgendes meine Schäden und Empfindlichkeiten.« Er nickte zufrieden und auch ich hatte das Gefühl, dass noch nie ein Bewerbungsgespräch so gut gelaufen war. »Kommen Sie auch mit Negern und Emanzen klar?«, fragte er. Ich wies entschieden auf meine nigerianischen Vorfahren hin, deren Stammesführerinnen damals koloniale Phalli an den Marterpfahl genagelt hatten. Das überzeugte ihn dann vollends. »Sie stehen jedenfalls auf der richtigen Seite. Das Dinner kannst Du Dir sparen, willkommen im Club.« Im Gratulieren steckte er mir seine Visitenkarte zu, woraufhin ich ihm die Nummer meines Metzgers überreichte. – Was würde meine M. dazu sagen? Dass ich sie hatte warten lassen für so etwas?

Refugium.

Wie unversehens fanden wir uns dann im Garten eingeschlossen. Unter dem alten Maulbeerbaum hatten wir die Zeit vertan, die letzten hellen Stunden des Herbsts. Um uns verschwanden vereinzelte Beeren, Nüsse unter der Erde, blühten die Blätter leise auf im fliehenden Licht. Als es stiller wurde, ein dunkler Wind aufkam, zog es jeden zurück in seine angestammte Traurigkeit. Der Weg hinein aber war versperrt, wir rüttelten am Tor vergeblich. Hohe Mauern hegten den Garten ringsum ein, wir suchten nach einem Durchschlupf, und fanden keinen. Auch unsere Rufe trug der Wind ungehört mit sich fort. Bald fanden wir uns ab mit dem blind zugeteilten Glück.

Schon haben wir eine Zuflucht für die Nacht hergerichtet, lassen uns fallen in jene abgelegten Träume der Kindheit. Die Dämmerung bevölkert mit den tollsten Lebewesen den Garten, Gestalten mit kühn geschwungenem Rücken und Schweif schleichen, wo wir im Gras sitzen, vorüber, Arm in Arm verschlungen, wo wir Haken schlagen und ins Leere laufen, und ich streiche über die Linie deiner Gestalt, den Bauch, wir stecken die Nasen zusammen, zähmen einander das Haar, Schattenachse, Tropfen fallen, tanzende Taille, und der Garten flüstert uns ins Ohr, wir überspannen den Bogen, und hier finden wir zusammen, und hier schweben wir.

Der Morgen brachte unaufhaltsam und tröstend den Lärm der Stadt, und er schenkte graues Licht, das Tor tat sich auf von Zauberhand, wir gingen zögerlich hindurch. Jeder verfolgte sogleich seine Wege. Fremde Sprachen irrten über den Platz, Kastanien prasselten aufs Pflaster. Regen setzte ein. Ein paar Schirme rissen an Händen. Die Flucht war allgemein, schon in der Frühe suchte man Schlaf und Vergessen. Wie ärgerlich über das erlebte Glück knallte schließlich hinter mir die Tür ins Schloss. Mich drängt das Grauen unwiderstehlich an den Schreibtisch, von diesem Garten zu sprechen, wo wir uns eingeschlossen finden, wo wir ruhen mit allen Geschöpfen und ihrer Schöpfung.

refugium