Die allerlängste Nacht. (2)

Die schönsten Schmähungen hatte ich verfasst, doch M. hat die Blätter aus dem Fenster geworfen und sie flattern noch immer ins Tal hinab – Schmähungen all der Scheisshaufen, der schlimmen Schreiberlinge, die um C., die einzige Dichterin in Heidelberg, herumschwirren, aber M. sieht mich schon wieder böse an und mahnt zu loben oder zu schweigen, es sei sinnlos, die Lebenden zu schelten, und so sehen wir den Zetteln nach, die wie Fledermäuse in der Nacht verschwinden.

Andere Blätter sind mir geblieben: Unser zeitgemäßes Ungewisse ist nicht Sehnsucht, es ist Resignation. Vielleicht nähern wir uns tatsächlich dem Ende; die rote Ruine erinnert daran, nichts Rettendes wartet in der Gefahr. Die Romantik dieser Stadt ist lang verblüht, vielleicht sind schon alle Worte fauler Zauber. Und doch schreibt es überall: es schreibt in den Villen, es schreibt in den kleinen Kammern der Studenten, es schreibt in Büros und in den Kneipen.

Diese sanfte Stadt, dem Untergang geweiht und doch entronnen, eine Laune des Schicksals, nur weil den anfliegenden Bombern ein paar launige Wolken die Sicht genommen hatten. Hätte die Sonne geschienen, die ganze Pracht wäre im Bombenhagel untergegangen. Und wir liefen heute durch Heidelberg am Rhein, Betonbauten an einem Kanal, Bismarckplatzgrauen allerorten.

Es heißt, schreiben kann man überall, aber sterben eben auch. Man fühlt sich schon gerne als Mensch beim Schreiben; und wo man sieht, was Menschen gebaut, was sie als Spuren ihres Lebens hinterlassen haben, das Schloss, die Krümmungen des Mittelalters, die barocken Häuserzeilen, die Jahrhundertwende, da ist man ganz Mensch.

Solange es Menschen gibt, solange wird geschrieben. So wie in diesem Moment, in jenem alten Haus am Hang, das verloren über die Stadt blickt, wo der große P. im Schatten sitzt und schreibt. Und die Spitzen der Türme recken sich ein wenig höher in den Himmel, und der Lärm der Landstraße verstummt …

Und doch begleitet immer Zweifel das Schreiben. Der Himmel ist tiefblau, unten leuchtet die Stadt. Sirenen rasen lautlos die Straße lang. Nur Mut, Schreiben hat auch mit Verwegenheit zu tun, man gibt etwas, was man nicht hat, jemandem, der es nicht haben will –

Jeder hat mal blöd angefangen, man muss ja so vieles schreiben und nicht schreiben, um etwas von Wert hervorzubringen, wie den Absatz, den ich eben gelöscht habe; niemand wird sehen, was ich schreibe. Dasjenige, was stehenbleibt, ist doch nur das am besten Verborgene. Lücken groß wie Omnibusse tun sich in den Texten auf; Verse, die sich krümmen, Phrasen, die vor Schmerz schreien, grobe Fahrlässigkeiten: die Zweifellosigkeit beim Schreiben ist ein rares Gut.

7 Kommentare zu “Die allerlängste Nacht. (2)

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    • Es gab ein paar kleinere Abwürfe, der große geplante wurde tatsächlich wegen schlechten Wetters kurzfristig anderswo ausgeführt. Und dann war Heidelberg wegen der geringen strategischen Bedeutung der Mühe nicht mehr wert.

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      • Leider gab es ja für die Bombenabwürfe nicht nur strategische Ziele, sondern auch die Absicht der Demoralisierung der Bevölkerung. Eventuell planten die Amerikaner doch schon mit Heidelberg als zukünftigem Standort eines Hauptquartiers der Besatzungsmacht. Heidelbergs Ruf als „romantische Hauptstadt“ war sicher bis nach Amerika durchgedrungen.

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